Viele Wege, ein Gipfel

Bei der religiösen Erziehung bleiben konfessionsverschiedenen Eltern Entscheidungen nicht erspart. Aber das wirklich Entscheidende passiert davor und danach.

Mit den vielen Religionen sei es ähnlich wie mit einer Bergwanderung, erklären der Rabbiner Marc Gellman und der katholische Priester Tom Hartman in ihrem Buch „Wo wohnt Gott?“ (Carlsen-Verlag, 1997). Viele Menschen sind unterwegs zu demselben Gipfel, zur Begegnung mit Gott. Sie haben dabei unterschiedliche Wege gewählt, aber je näher sie ihrem Ziel kommen, desto dichter rücken die einzelnen Wege zusammen. Die Wanderer begegnen sich sogar an Wegkreuzungen; dann können sie einander erzählen, wie der Weg bis hierher verlaufen ist, und Wanderlieder voneinander lernen. Manche teilen sogar ihren Proviant miteinander. Die verschiedenen christlichen Konfessionen fallen in diesem Bild besonders ins Auge. Ihre Wege verlaufen über große Strecken parallel; nur an einigen Stellen verzweigen sie sich und münden dann doch wieder ineinander ein.

Auf vielen Wegen zu einem Gipfel

Von Eltern, die in unterschiedlichen Konfessionen beheimatet sind, erfordern diese Abzweigungen Entscheidungen: Soll – um im Bild zu bleiben – jeweils einer von ihnen das Kind an die Hand nehmen? Und wenn ja: Wer? Ist es besser, sich abzuwechseln? Sollen die Eltern überhaupt Vorgaben machen? Wäre es vielleicht sogar sinnvoller, das Kind an jeder Weggabelung selbst entscheiden zu lassen?
Bei der Suche nach der „richtigen“ Antwort hilft Paaren vor allem ein Austausch über ihre eigenen Erfahrungen und Wünsche. Wie hat mein bisheriger Glaubensweg ausgesehen? Welche Menschen haben dabei eine Rolle gespielt? Was bedeutet mir die Zugehörigkeit zu meiner Kirche? Was wünsche ich mir für die Zukunft? Und was an meinem Glauben ist mir so wichtig, dass ich es meinem Kind vermitteln möchte?
An zwischenkirchliche „Knackpunkte“ wie den Unterschied zwischen Eucharistie und Abendmahl oder die Zahl der Sakramente denken die allermeisten Eltern dabei wohl kaum. Sie wünschen ihrem Kind vielmehr ein Gefühl von Geborgenheit, eine vertrauensvolle Beziehung zu einem Gott, von dem es sich angenommen und geliebt weiß, und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft.

Kreuzzeichen und Kinderbibel

Das alles vermitteln Mütter und Väter ihren Kindern, lange bevor sie sich bewusst mit Konfessionsunterschieden auseinandersetzen können. Die Beziehung zu Gott wurzelt in der Beziehung zu den Eltern, in der Geborgenheit, die Kinder schon als Säuglinge bei ihnen erfahren. „Gott ist da, auch wenn ich ihn nicht sehe.“: Diese Überzeugung kann gedeihen, wenn Kinder die Erfahrung machen, dass Papa oder Mama immer wiederkommen, dass sie nicht weg sind, auch wenn sie für kurze oder längere Zeit aus dem Blickfeld verschwinden.
Dabei lernen sie auch schon früh: Es gibt viele Arten, Beziehungen zu leben. Bei den großen Geschwistern geht es oft wild und aufregend zu, die Oma kennt viele Fingerspiele, Mama und Papa können wunderbar trösten – auch wenn sie das ganz anders macht als er.
Ganz ähnliche Erfahrungen machen Kinder auch, wenn die Eltern sie mit hineinnehmen in ihre Beziehung zu Gott. Beim Abendritual beispielsweise: Mit Papa kann ich nach der Geschichte und vor dem Gutenachtkuss noch ein wenig erzählen, Mama singt nach der Geschichte ein Lied. Und: Papa spricht mit mir ein Abendgebet, das mit einem Kreuzzeichen beginnt, Mama schlägt lieber die Kinderbibel auf und erzählt mir etwas über Gott.
Auch bei Gläubigen, die ein und derselben Konfession angehören, kann sich die Beziehung zu Gott in sehr unterschiedlichen Formen ausdrücken. Während der eine die Nähe Gottes vor allem im persönlichen Gebet spürt, findet die andere sie eher in den gemeinsamen Ritualen einer Glaubensgemeinschaft oder im tatkräftigen Engagement für die Armen. „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt“, betonte Josef Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI. Diese verschiedenen Wege, die verschiedenen Arten der Spiritualität bilden keine unüberbrückbaren Gegensätze, sondern können eine gegenseitige Bereicherung sein. Denn gerade diese Unterschiede laden dazu ein, sich mit dem Glauben des anderen und gleichzeitig auch verstärkt mit dem eigenen auseinanderzusetzen. Was gefällt dir an deiner Kirche? Was bedeutet dir die Art, wie dort Gottesdienst gefeiert wird? Vielleicht aber auch: Worüber ärgerst du dich? Paare, die öfter miteinander über solche Fragen sprechen, können umso eher auch die Fragen ihrer Kinder („Warum gehst du in eine andere Kirche als Papa?“) als positives Signal begreifen – als Beleg dafür, dass ihr Kind Interesse zeigt und sich auch zu religiösen Fragen eigene Gedanken macht.

Eltern bleibt Entscheidungen nicht erspart

Auf dieses eigene Fragen und Denken der Kinder legt religiöse Erziehung heute weit mehr Wert als in vergangenen Jahrzehnten. Früheren Mütter- und Väter-Generationen ging es vor allem um die Sozialisation in eine bestimmte Glaubensgemeinschaft – das Mitvollziehen der Riten, die Einhaltung von Geboten; dagegen wünschen sich heute viele Eltern, dass ihr Kind einen eigenen Zugang zum Glauben und eigene Überzeugungen findet. Sie unterstützen es dabei, wenn sie es ermutigen, zu fragen und selbst nach Antworten zu suchen. Zum Beispiel können Mama und Papa auf die Frage nach den verschiedenen Kirchen erklären, was „ihre“ Kirche ihnen ganz persönlich bedeutet. Zusätzlich können sie ihr Kind aber auch zu eigenen Gedanken anregen: Wenn du dir die beiden Kirchen anschaust: Was gefällt dir dort? Gehst du gerne in die Gottesdienste? Wenn du eine Kirche bauen würdest, wie sähe die aus? Welche Feste in der Kirche magst du besonders?
So weit, so schön. Bei allem Respekt vor dem Glauben des Partners und seinen Ausdrucksformen und bei aller Bereitschaft, Kindern bei der Entwicklung einer eigenen Überzeugung zu helfen, bleiben Eltern Entscheidungen dennoch nicht erspart – und manche können durchaus schmerzen. Die erste, höchst bedeutsame steht praktisch gleich bei der Geburt des Babys an: Wie gehen wir mit dem Thema Taufe um? Eine „ökumenische Taufe“ gibt es ja nicht, auch wenn die christlichen Kirchen die der anderen gegenseitig anerkennen. Also müssen die Eltern sich entscheiden: Wir möchten unser Kind taufen lassen – aber wo?

Viele Fragen auf Eltern- und Kinderseite

Oft geht es bei dieser Frage nicht allein darum, welcher Weg wohl der beste für das Kind ist. Vielmehr gesellen sich andere, womöglich sogar unausgesprochene Themen dazu, die die Entscheidung noch erschweren: Wie ist es beispielsweise für den Partner, dessen Konfession dann nicht die des Kindes ist – hat er oder sie dann bei der religiösen Erziehung weniger zu sagen? Oder vielleicht sogar auch darüber hinaus weniger Einfluss in der Familie? Und andersherum: Liegt die Verantwortung für die religiöse Erziehung allein bei demjenigen, dessen Konfession die des Kindes ist? Oder: Gibt es (stumme) Erwartungen von Seiten der Großeltern? Und wenn ja: Wie können wir damit umgehen? Darüber müssen Eltern miteinander reden.
Aus Sicht der Kinder geht es allerdings in erster Linie nicht um Unterschiede, sondern um Zugehörigkeit. Ob und wie sie sich in Zukunft mit Glaubensfragen beschäftigen werden, könnte zum Beispiel davon abhängen, ob es im Alltag der Kinder andere gibt, die das gleiche tun, zum Beispiel in einer Kirchengemeinde. Bei der Entscheidung, in welcher Kirche ihr Kind getauft wird, fragen manche Paare deshalb auch danach, wie kinderfreundlich die Gemeinde vor Ort ist oder mit welcher Konfession ihr Kind später im Kindergarten oder in der Schule in erster Linie zu tun haben wird.

Es kommt auf die Begleiter an

Welchen Weg es an den Abzweigungen auf dem Weg zum Gipfel nimmt, kann jedes Elternpaar letzten Endes nur ganz individuell für sich und sein Kind beantworten. Aus der Sicht der Kinder kommt es darauf vielleicht gar nicht so sehr an. Wohl aber darauf, dass sie Menschen begegnen, die ihnen „Weggeschichten“ erzählen, die sich als Begleiterinnen und Begleiter anbieten und sie gleichzeitig ermutigen, auf der Suche nach Gott einen eigenen Weg zu finden.

Regine Hain